Liebe St. Georgsfamilie!
"Der moderne Mensch ist derjenige, der den richtigen Weg selber findet."
Ich spreche hier von einer "St. Georgsfamilie", denn in dieser Schule sind wir mit allen Beschäftigten und Schülern eine Familie. Eine Familie, die gute und schlechte Zeiten gemeinsam erlebt. Eine Familie bestehend aus Tausenden von Mitgliedern, die an der gleichen Kultur und dem gleichen aufgeschlossenen Denken teilhaben. Ich erinnere mich genau an den ersten Tag, als ich dieses Haus betrat. Voller Aufregung stieg ich die knirschende Holztreppe, die später durch eine Steintreppe ersetzt wurde, hinauf. H. Themis, von dem ich erst später erfuhr, dass er der Direktorstellvertreter war, hielt mich am Ende der Treppe auf und fragte mich, wen ich suche. Ich überreichte ihm mein Ernennungsschreiben. Nach Durchsicht sagte er: "Wer ist das?" Ich war so verblüfft, dass ich mich zuerst umsehen musste und dann antwortete: "Das bin ICH". "Als würden uns die Schüler nicht genug Probleme machen, haben wir jetzt also noch dazu mit so jungen Lehrern zu tun", erwiderte er. Soviel ich weiß, haben allerdings weder ich der Schulleitung noch die Schüler mir jemals Probleme bereitet.
Wie schön und glücklich waren doch die Jahre, die ich in diesem Ort der Kultur verbracht habe. Der größte Beweis dafür liegt darin, dass ich es gar nicht merkte, wie schnell die Jahre vergingen. Es waren die vielen angenehmen Erlebnisse, die mir das ermöglichten. Wie könnte ich sie vergessen - wie denn auch?
- Um das Reserveholz in den Klassenzimmern zu kämpfen (damals wurde mit Holzofen geheizt
- zusammen mit den Schülern eine Kulturgruppe zu gründen und die Diskussionen um deren Gründungsstatut
- anlässlich der 500-Jahre-Feier der Eroberung Istanbuls einen Schüler als Sultan Mehmet, dem Eroberer, zu schminken und die Feier vor diesem Gemälde abzuhalten
- für diese Feier eine Filmaufnahme des Gedichts "Ich höre Istanbul" von O. Veli zu machen
- Teetreffen am Wochenende (alle Lehrer nahmen teil)
- allererster Anatolien-Ausflug mit den Schülern
- die Schulleitung um Erlaubnis zu bitten, dass Schülerinnen an einem Theaterspiel mitwirken durften
- eine Volkstanzgruppe zu gründen und die Volkstanzkleider im Kapalı Çarşı zu besorgen
- Österreich-Fahrten
- Schulfeiern im Schulgarten
So viel Erlebtes in so vielen Jahren. Ich weiß selber nicht, welche davon ich hier erwähnen soll. Doch eines weiß ich: All diese Erinnerungen führen mich in sehr glückliche Zeiten zurück. Als mir mitgeteilt wurde, dass ich mein 20. Dienstjahr vollendet habe, bedankte ich mich in den Klassen bei meinen Schülern. Wie könnte ich das auch versäumen, denn dank ihrer gutwilligen und respektvollen Haltung war es möglich, dass die Jahre vergingen, ohne dass ich es merkte.
Ist es wichtig, dass es in all diesen Jahren - die in Toleranz und Liebe gelebt wurden - ab und zu mal Missstimmungen gab? Wichtig ist nur, dass man das Leben, die Menschen und die Arbeit liebt. Über Jahre hindurch waren Freuden und Kummer meiner Kollegen und meiner Schüler auch meine Freuden und Kummer. Ich war stets mit und bei euch. Auch in Zukunft wird das so sein, nunmehr als Freunde. Diese herzliche, freundschaftliche Beziehung ist mir mit ehemaligen Schülern immer aufrecht geblieben, warum sollte es mit euch anders sein?
Ich hatte euch und meinen Beruf sehr gern und genoss jeden Augenblick. Alles, was ich mir als frische Anfängerin vorgenommen hatte, konnte ich zur Gänze - viel mehr sogar - in die Tat umsetzen. So kann ich nun mit gutem Gewissen zurückblicken. In diesem Zusammenhang bin ich den damaligen und jetzigen Vertretern der Schulleitung, die mir jeden Wunsch gewährt haben, zu Dank verpflichtet. Dafür habe ich mich aber in all den Jahren, die ich dieser Schule zur Verfügung stellte, umso mehr bemüht. Während meiner Lehrertätigkeit gab es für mich drei Begriffe, die von großer Bedeutung waren: LIEBE, TOLERANZ, WISSEN. Diese drei Grundbegriffe versuchte ich stets, meinen Schülern beizubringen bzw. einzuprägen. Ob das mir zu hundert Prozent gelang? "Ja, zu hundert Prozent" kann ich natürlich nicht sagen. Doch immerhin in genügendem Ausmaß, denke ich. Der Literaturunterricht soll dazu dienen, nebst literarischem Fachwissen dem Schüler auch die humanistische Denkweise, das Gute, das Richtige und das Schöne zu vermitteln. In den vielen, im Unterricht gemeinsam durchgenommenen Werken von Dichtern und Schriftstellern seid ihr diesem Gefühl oft begegnet, das in euch auch Spuren hinterließ.
"Kommt, lasst uns Freunde werden
und so das Leben erleichtern
Lasst uns Liebe geben und empfangen
Das Irdische ist vergänglich"
- die Menschenliebe, die aus diesen ausdrucksstarken Zeilen von Yunus Emre hervorgeht, sei hier nur als ein kleines Beispiel erwähnt.
Es sind ganz einfach Liebe, Toleranz und Mitgefühl, die das Leben lebenswert machen. Liebe Schülerinnen und Schüler, ihr werdet selber darauf kommen, dass der humanistische Lebensweg der einzig richtige Weg ist. Und dann werdet ihr begreifen, was es heißt, ein moderner Mensch zu sein. Ich bin zuversichtlich, dass dies euch gelingen wird.
Ich danke nochmals allen Personen in der Schule für das Entgegenkommen, das mir durch so viele Jahre hindurch zuteil wurde, und wünsche allen Gesundheit und Wohlergehen für die Zukunft.
Mahmedet Şahinler
Abschiedsbrief 1991 beim Eintritt in den Ruhestand